Paganinis Erbe
Morgens, wenn ich zum Frühstück die Tageszeitung
zur Hand nehme, um mich über die Neuigkeiten dieser Welt zu unterrichten, bin
ich oft noch nicht richtig wach. Heute sprang mir jedoch eine kleine Notiz in
die Augen, die meine Morgenmüdigkeit blitzartig verscheuchte und lange
vergrabene Erinnerungen aufweckte. In der Meldung hieß es lapidar:
„Der
seit vielen Jahren als Wunderkind angesehene Violinsolist Gabor Szabo geriet in
Moskau zufällig in eine noch ungeklärte Schießerei. Szabo wurde dabei
angeschossen und schwer verletzt in eine Spezialklinik eingeliefert, wo die
Ärzte in einem ersten Bulletin verlautbaren ließen, dass sein Zustand ernst, er
durch einen Treffer halbseitig gelähmt und nicht damit zu rechnen sei, dass er
je wieder würde spielen können. Gabor Szabo ist 18 Jahre alt.“
Ich war
wie vor den Kopf geschlagen. Gabor, der Junge, der vor zehn Jahren mit seiner
Geige mein Herz erobert, der die himmlische Fähigkeit besaß, seiner Geige Töne
zu entlocken, wie ich – ein eifriger Konzertbesucher – sie nie zuvor gehört
hatte.
In
einem Urlaub in Ungarn hatte ich den damals Achtjährigen kennen gelernt. Ich saß
am Plattensee in einem bekannten Weinkeller bei einem Glas Tokaier, um mir auf
der kleinen Bühne das Konzert einer Zigeunerkapelle anzuhören, die die Besucher
des Lokals mit Csardasweisen unterhalten sollte. Ich mochte schon immer diese
oft schwermütige Musik, deren Bearbeitung durch Bartok und Kodaly sogar Eingang
in das klassische Repertoire gefunden hatte. Der Portier meines Hotels, ein
Musikliebhaber durch und durch, hatte mir die Empfehlung gegeben, der Musik von
Primas Attila Szabo und seiner Kapelle zu lauschen, nachdem ich ihn nach guter
Zigeunermusik gefragt hatte, und er meinte, dass diese Kapelle nach seinem
Dafürhalten die beste sei, die er je gehört
habe. Ich erwartete also voller Spannung einen außergewöhnlichen Musikgenuss.
Die Kapelle musizierte in der Tat mit großer Spielfreude, der Primas war bester
Laune und feuerte seine Mannen mit mächtiger Gestik zu immer neuen
Höchstleistungen an. Er selbst strich und zupfte temperamentvoll über die Saiten
seines Instruments. Es dauerte nicht lange, bis ich völlig in die Musik der
Zigeuner versank.
Nach
einer Pause, in der sich die Musiker mit einem Glas Wein erfrischten, kündigte
der Primas eine Überraschung an: „Sehr verehrte Damen und Herren, ich freue
mich, Sie heute an einer Premiere teilhaben zu lassen. Als Geschenk zu seinem
heutigen Geburtstag spielt mein Sohn Gabor zum ersten Mal in seinem jungen Leben
auf unserer Familiengeige, auf unserer Guarneri!“ Ein Tuscheln ging durch den
Raum, denn ich war offensichtlich nicht der einzige Zuhörer, der die Bedeutung
dieser Ansage ermessen konnte. Und dann hatte ich den unvergesslichen Genuss,
den ersten Bühnenauftritt von Gabor Szabo mit seiner alten Geige mitzuerleben.
Die
Kapelle spielte eine rhythmische Begleitung, als das Geburtstagskind aus dem
Hintergrund die Bühne betrat, die Guarneri in der linken, den Bogen in der
rechten Hand. Ein ungewöhnlicher Junge: Pechschwarzes Haar wie die meisten
Zigeuner, lockig auf die Schultern fallend, für sein Alter recht klein und
schmächtig, sein ernster, irgendwie abweisender Habitus völlig dominiert von
seinen großen, feurigen Augen, auffallend seine schlanken Hände mit ihren langen
knochigen Fingern.
Mit
einer herrischen Bewegung gebot er den Musikern, mit ihrem Spiel einzuhalten,
und sofort war auch an den Tischen im Weinkeller kein Mucks mehr zu vernehmen.
Andächtig hob er die Geige, küsste sie und legte sie auf seine schmale Schulter,
bedächtig strich er mit dem Bogen über die A-Saite, um sich zu vergewissern,
dass das edle Instrument auch seinen musikalischen Bildern zu folgen gewillt war
und begann abrupt die Zigeunerweisen von Sarasate zu spielen. Atemlos lauschten
die Zuhörer dem Spiel des Jungen, ließen sich mehr noch von seiner Spielweise
faszinieren, die für einen Jungen seines Alters als Aufsehen erregend zu
bezeichnen war. Tosender Beifall belohnte den Jungen für sein Spiel, das allen
Zuhörern unter die Haut gegangen war.
Als
Zugabe spielte der kleine Gabor einige der 24 Capricen für Solovioline von
Paganini, dessen Virtuosität ihm zu seinen Lebzeiten den Beinamen
„Teufelsgeiger“ eingebracht hatte. Ich hatte in Konzerten bereits des Öfteren
Interpretationen von namhaften Geigern gehört, doch was Gabor an technischer
Raffinesse darbot, entzückte und erstaunte die Zuhörer gleichermaßen: Rasende
Passagen, dröhnende Akkorde, weite Griffe, auf dem Griffbrett rennende Finger
trotz seiner kleinen Hände, mehrstimmiges Spiel, doppelte Triller, Flageoletts,
die gesamte Spannbreite virtuosen Geigenspiels war ihm bereits zu Eigen. Ich war
mir sicher, der Wiedergeburt des großen Paganini begegnet zu sein.
In der
nächsten Pause setzte sich der Primas an meinen Tisch und sprach mich an: „Ich
habe beobachtet, wie sehr Sie das Spiel meines Sohnes begeistert hat. Sind Sie
Musiker?“
Ich
verneinte, erzählte ihm jedoch von meiner Leidenschaft für die klassische Musik
und brachte meine Verwunderung zum Ausdruck, dass ich ihm aufgefallen sei.
Wir
kamen ins Gespräch. Attila Szabo erzählte mir von seinem Sohn, dessen einziger
Lebensinhalt offensichtlich aus dem Geigenspiel bestand.
„Ich
bin stolz auf Gabor, mache mir allerdings auch gewisse Sorgen um ihn“, ließ er
mich wissen. „Gabor interessiert sich für nichts anderes als das Geigenspiel.
Die Schule schwänzt er oft, weil er sie für Zeitverschwendung, seinem Talent und
seiner Berufung für nicht angemessen hält. Schon mit fünf Jahren nahm er ein
Instrument in die Hand … und spielte. Spielte Melodien, die seine Ohren
aufgenommen hatten. Er kann bis heute keine Noten lesen! Die Zigeunerweisen von
Sarasate hat er beispielsweise vor zwei Wochen zum ersten Mal auf einer
Schallplatte gehört! Er verfügt offenbar über eine göttliche Gabe, wie sie noch
keinem Menschen je zuvor zuteil wurde … Obwohl …“
Er hielt inne, blickte mich
an, unsicher, ob er den Satz beenden sollte.
„Ich weiß nicht, ob ich’s
sagen soll …“
„Obwohl? …“, hakte ich nach.
„Obwohl … Manchmal meine
ich, es ist eine diabolische Begabung … Manchmal fürchte ich mich geradezu.“
„Haben Sie ihm das
Geigenspiel beigebracht?“
„Ich habe ihm ein paar
technische Dinge gezeigt, aber nicht viel. Er hat sich das meiste nur von mir
abgeschaut.“
„Von wem haben Sie denn
spielen gelernt?
„Von wem schon? Von meinem
Vater“, schmunzelte er.
„Ich kann übrigens auch
keine Noten lesen, jedenfalls nicht richtig. Wir Zigeuner lernen die Musik immer
von unseren Vorfahren.“
Seine Darlegungen machten
mich sprachlos. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ein Mensch auf so großartige
Weise Musik interpretieren kann, ohne Noten und die Grundlagen der Musiklehre zu
beherrschen. Eine andere Frage interessierte mich ebenfalls, und ich ließ meiner
Neugier freien Lauf:
„Mal ganz ehrlich: Gabor
spielte auf einer Guarneri?“
„Sie zweifeln?“
„Eigentlich nicht, wenn Sie
das sagen, aber …“
„Ich verstehe Ihre Skepsis
durchaus. Mein Großvater hat sie eines Tages auf einem Trödelmarkt gefunden und
sich sofort in sie verliebt. Der Trödler wusste nicht, welche Kostbarkeit er
anbot, denn das Zeichen IHS, das alle Instrumente dieser Geigenbauerfamilie aus
Cremona tragen, war nicht zu erkennen. Mein Großvater, ein großer Musiker und
Primas, nahm die Geige, spielte ein paar Töne auf ihr, obwohl sie reichlich
verstimmt war und kaufte sie für ein paar Forint. Als er sie restaurieren ließ,
wurde erst offensichtlich, auf welches Juwel er gestoßen war.“
„Sie muss einen enormen Wert
haben …“
„Sie ist nicht verkäuflich,
wenn Sie das meinen. Meine Musik klingt in
meinen Ohren nur mit der Guarneri, und Gabor wird diese Tradition eines Tages
fortsetzen.“
Eine
Woche Urlaub verblieb mir noch, eine Woche, die ich jeden Abend in dem
Weinkeller verbrachte, um mich von der Musik Attila Szabos verzaubern zu lassen.
Auch unsere Gespräche über Musik im Allgemeinen und die der Zigeuner mit ihren
eigenwilligen Tonleitern, den Csardas und auch die klassische Bearbeitung von
Bartok und Kodaly setzen wir fort.
Zweimal
trat auch Gabor noch auf. Ich war überzeugt, dass er eines Tages der berühmteste
Violinsolist unseres Planeten sein würde, und ich nahm mir vor, ihn nicht mehr
aus den Augen zu verlieren. Attila erwähnte seine Pläne, mit der Kapelle eine
Tour durch Europa zu starten und auch zu versuchen, in Deutschland zu spielen,
wenn sich eine Gelegenheit dazu böte. Im nächsten Sommer wollte er erst einmal
zum berühmten Zigeunertreffen nach Sainte Marie de la Mer reisen, um dort zu
Ehren der heiligen Magdalena zu aufzuspielen.
Von
Gabor Szabo war gelegentlich in den Kulturnachrichten aus aller Welt zu lesen.
Er blieb das Wunderkind, das selbst die schwierigsten Violinparts nach Gehör
spielte, und wurde bei zahlreichen Wettbewerben für junge Künstler mit Preisen
ausgezeichnet. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr weigerte er sich beharrlich,
trotz attraktiver Angebote von Stipendien ein Konservatorium zu besuchen, um
seinen angeborenen virtuosen Fähigkeiten zumindest ein gewisses Basiswissen
beizufügen. Schließlich ließ er sich doch überreden und ging nach Moskau, weil
er dort die besten Lehrer vermutete …
Das
Frühstück, für mich die wichtigste Mahlzeit des Tages, wollte mir heute nicht
schmecken. Ich sah den kleinen Gabor vor mir mit seinen glühenden Augen und
hörte seine leidenschaftliche Interpretation von Paganinis Capricen. War er die
Wiedergeburt des Teufelgeigers? Er jetzt fiel mir auf, dass sich bei seinen
Auftritten stets ein leichter Geruch von Schwefel im Keller ausgebreitet hatte … |