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Fräulein Angelas letzter Tanz
Fräulein Angela, eine junge Frau
von knapp dreißig Jahren, hörte nicht nur auf den Namen Engel. Auch ihr Aussehen
ähnelte der Darstellung des Himmelsgeschöpfes, wie ihn die Maler zu allen Zeiten
auf eine Leinwand gebannt haben: ein Gesicht, eingerahmt von dem Leuchten wie
dem eines Heiligenscheins, das zu beschreiben dem Autor die Worte fehlen, zwei
braune Augen, geheimnisvoll leuchtend wie der Abendstern, langes, über die
Schulter wallendes blondes Haar und eine Figur, die jedes Model mit Erfolg hätte
zur Schau stellen können. Wer jedoch ein aufmerksames Auge auf Angela warf, dem
offenbarte sich ihr Hang zur Melancholie, die manchmal mehr, manchmal weniger
augenscheinlich wurde, die aber nicht so recht zu ihrem Aussehen passen wollte.
In Angelas Seele zu lesen, herauszufinden, wer sich hinter ihrem attraktivem
Aussehen verbarg, was sie dachte, was sie fühlte, war bis zu dem Tag, von dem
ich erzähle, noch niemandem gelungen. Weder einem Mann, noch einer Frau, weder
einer nahe stehenden Person, noch flüchtig Bekannten, weder Menschen mit
Lebenserfahrung noch Zeitgenossen, die einen unbekümmerten Umgang mit ihren
Mitmenschen pflegen. Das Tor zu Angelas Wesen war verschlossen, verrammelt
sogar, und es hatte sich noch kein Prinz auf den Weg gemacht, es aufzubrechen
und Angela zu erwecken, ihr den Zugang in die Welt der Normalsterblichen zu
öffnen.
Fräulein Angela war als Einzelkind aufgewachsen, ihre Eltern waren in Angelas
Kindertagen bei einem Unfall ums Leben gekommen. Eine reichlich schrullige,
bereits ältliche Tante hatte sich ihrer angenommen, hatte sie im Rahmen ihrer
beschränkten Möglichkeiten groß gezogen, ohne an Angelas verträumter
Verschlossenheit etwas ändern zu können oder zu wollen. Angela schien in einer
fernen Welt, einer Welt aus Illusionen zu leben. Spielkameraden, Freundinnen,
Freunde benötigte sie offensichtlich nicht und fand demnach auch keine. In der
Schule galt sie als Einzelgänger, ihre Leistungen entsprachen dem besseren
Durchschnitt, ebenso ihre Abiturnote. Ihre Lehrer und Lehrerinnen erinnerten
sich später nur vage an sie, erinnerten sich an eine Schülerin, die stets
aufmerksam und fleißig war und im Gegensatz zu ihren Mitschülern durch ein
angenehm freundliches, jedoch unverbindliches Wesen auffiel, richtiger
ausgedrückt, nicht auffiel.
Nach ihrem Abitur absolvierte Angela eine kaufmännische Lehre, da das Geld für
ein Studium nicht ausreichte, und wurde nach Abschluss ihrer Lehrzeit im
Sekretariat ihres Lehrherren angestellt, eine Tätigkeit, die sie bis zuletzt
ausübte. Ob sie Freude an ihrer Arbeit hatte, wusste niemand, und auf
entsprechende Fragen erhielt ihr Chef stets ziemlich unverbindliche Antworten,
unverbindlich, wie sie sich stets gab, um sich nicht auf den Grund ihrer Seele
schauen zu lassen. Sie erledigte ihre Arbeiten stets zu seiner Zufriedenheit,
und er war derartig mit seinen eigenen Problemen oder denen des Unternehmens
beschäftigt, dass er keine Zeit fand, dies auch nicht für notwendig erachtete,
sich Gedanken über die Gefühle seiner Mitarbeiter zu machen. Aus Fräulein
Angelas Privatsphäre drang nichts nach außen, und selbst die unerbittlichsten
Klatschmäuler in der Firma fanden nicht die geringsten Anhaltspunkte für
lästerliche Spekulationen, obwohl sie immer wieder danach Ausschau hielten.
Der Tag, von dem zu erzählen ist, war der Tag des letzten Vollmonds, einem
Ereignis, dem sie stets mit freudiger Erwartung entgegen fieberte, vor dem sie
jedoch gleichermaßen tiefe Furcht empfand. In Vollmondnächten eröffnete sich ihr
eine Welt, die den Normalsterblichen im Allgemeinen nicht zugänglich ist, eine
Welt, von der eher alte Märchen und Sagen berichten, eine Welt, die unzählige
Geheimnisse an Licht bringt. Für Angela existierte sie jedoch real, die Welt
geheimnisvoller Geister, die stets in Vollmondnächten Verbindung zu ihr
aufnahmen und sich unverhohlen erkundigten, wann sie denn endlich heimkommen
wolle in ihr nur wenigen Auserwählten zugängliches Reich. Sie gaukelten ihr eine
Welt voller Wunder vor, in der Glück und Friede herrschen und in der alle Wesen
in Harmonie und Eintracht zusammen leben.
Spät heimgekommen aus dem Büro, weil noch ein Vertragswerk für den nächsten Tag
fertig zu stellen war, bereitete sich Angela eine leichte Mahlzeit zu, schlüpfte
in bequeme Kleidung, öffnete eine Flasche edlen Bordeaux, den sie sich zu
Anlässen wie heute gönnte, zündete ein paar Kerzen an, legte eine CD mit Mahlers
Kindertotenliedern auf und setzte sich schließlich in ihren Fernsehsessel, wo
sie ihre Augen schloss, um in ihre Wunderwelt einzutauchen und dort zu
versinken. Ihre Stimmung schwankte zwischen einem Zustand der Schwermut und
Ekstase, wusste sie doch, dass die Besucher aus der anderen Welt nicht lange auf
sich warten lassen würden.
Während die ersten Wesen, mit denen sie inzwischen durchaus vertraut war, vor
ihrem geistigen Auge vorbei huschten, sie freundlich begrüßten, nach ihr riefen
und wieder verschwanden, bemerkte sie aus dem Hintergrund eine Gestalt auf sich
zukommen, der sie bisher noch nie begegnet war, wenngleich sie ihr jedoch
bekannt vorkam und nach der sie sich bereits des Öfteren in ihren Träumen
gesehnt hatte. Bekleidet war das Traumwesen mit einem langen schwarzen Umhang
mit einer Kapuze auf dem Kopf, die sein Gesicht völlig verdeckte, sodass
Fräulein Angela es nicht erkennen konnte wie auch den Gegenstand, den er in der
Hand hielt und auf den er sich stützte, einem Wanderstab nicht unähnlich. Zu
ihrer Überraschung blieb die Gestalt in einiger Entfernung stehen und winkte ihr
zu, sie unmissverständlich auffordernd, näher zu kommen. Bangigkeit und Freude
ergriff Angela zugleich, eisige Kälte fühlte sie plötzlich über ihren Rücken
hinunterlaufen, und doch siegte schließlich ein unwiderstehlicher Trieb, der
Aufforderung des Unbekannten zu folgen. Lange Zeit hatte sie bereits damit
gerechnet, dass er eines Tages erscheinen würde, um ihr die Nachricht zu
bringen, endlich den Heimweg anzutreten. Daher wollte sie den Unbekannten kennen
lernen, um sich zu versichern, dass der Ankömmling der lange Erwartete sei, und
sie rief ihm mit bebender Stimme zu: „Wer bist du, Fremder? Was willst du von
mir?“
Die Gestalt antwortete mit einer hohl und fremd klingenden Stimme: „Ich will
dich zu einem Tanz auffordern, mein Engel, zu einem Tanz, den du nur einmal
wirst tanzen können. Komm um Mitternacht aufs Dach, der Mond wird uns sein
freundliches Licht spenden.“
Danach verflüchtigte sich sein Anblick spurlos vor ihren Augen, so, als hätte
ein Nebel ihn eingefangen, so, als hätte er sich nie gezeigt. Angela hatte
jedoch seine Botschaft verstanden, sie hatte keine Zweifel, dass er der lange
erwartete Bote war.
Von diesem Moment an schien Angela von unbekannten Mächten ferngesteuert zu
werden. Ihr Handeln entzog sich ihrer Kontrolle. Wie in einem Trancezustand und
ohne zu wissen, was sie überhaupt tat, begab sie sich ins Bad, ließ warmes
Wasser und duftenden Essenzen in die Wanne ein, entledigte sich ihrer Kleidung,
nahm ein entspannendes Bad und setzte sich schließlich vor den Spiegel, um sich
für ihren unbekannten Tanzpartner schön zu machen. Sie cremte sich mit ihren
zarten Händen ein, ließ ihre Augen über ihren nackten Körper streichen,
betrachtete beseelt ihre kleinen festen Brüste, die noch nie die Liebkosung
eines anderen Menschen erfahren hatten, bürstete andächtig ihr blondes Haar und
schminkte sich dezent. Immer wieder überprüfte sie kritisch ihr Aussehen, bis
sie schließlich nichts mehr an sich auszusetzen hatte. Letztendlich warf sie ein
langes weißes Leinenkleid über, mit dem sie einen Kontrast zu der schwarzen
Kleidung des Tänzers bilden wollte. Darunter trug sie nichts als nackte
Schönheit und die unerfüllte Liebessehnsucht ihrer Jungfräulichkeit.
Kurz vor Mitternacht nahm sie noch einen kräftigen Schluck Rotwein, als wenn
sich ihr Mut damit steigern ließe, legte ihre Lieblings-CD, eine wunderschöne
Tristan-und-Isolde-Einspielung von Berstein, auf, öffnete die Türe ihrer
Dachgeschosswohnung, die auf eine große Dachterrasse hinausführte und die Musik
nach draußen trug, und Angela trat auf die Terrasse, die im gleißenden Licht der
Mondes und im Funkeln der Sterne lag. Sie schaute sich schüchtern, aber auch
voller Vorfreude um, aber der Unbekannte war nirgendwo zu erblicken. Einen
Moment fühlte sie Enttäuschung, ein flüchtiger Blick auf ihre Uhr zeigt ihr
jedoch, dass die verabredete Zeit noch nicht gekommen war. Sie setze sich auf
einen Liegestuhl mit angezogenen Beinen, ihr Kleid züchtig darüber gelegt,
lauschte den Klängen, die vom CD-Player zu ihr aufs Dach wehten, und ließ sich
von Tristans Gesang einfangen:
… „Was einzig mir geblieben,
ein heiß-innbrünstig Lieben,
aus Todes-Wonne-Grauen
jagt's mich, das Licht zu schauen,
das trügend hell und golden
nach dir mir scheint.“
Bei diesen Seufzern aus Tristans Mund hielt sie es auf der Liege nicht mehr aus,
sie erhob sich und wie von selbst setzten sich ihre unbeschuhten Füße in
Bewegung und übertrugen die Musik in Tanz wie in einem modernen Ballett. Sie
schwebte auf die Attika des Flachdachs zu und vollführte auf der schmalen Mauer
einen Tanz voll unerfüllter Erotik, der alle ihre geheimen Wünsche und
Sehnsüchte zum Ausdruck brachte, die Gefahr eines Absturzes dabei völlig
missachtend. Doch plötzlich hielt sie erschrocken inne, fühlte sich beobachtet
und versuchte, im Licht des Mondes den Zuschauer zu erkennen. Nachdem sich ihre
Augen an die Umgebung gewöhnt hatten, sah sie die Traumgestalt, den Unbekannten,
auf der Terrasse stehen, angelehnt an das Mauerwerk, sie aufmerksam beobachtend.
Angela näherte sich tanzend dem Unbekannten und erkannte augenblicklich ihr
Schicksal, das zu erfüllen ihr im Unterbewusstsein schon immer bekannt war. Aus
der Kapuze starrten ihr mit unübersehbarem Verlangen die leeren Augenhöhlen des
Todes entgegen, doch sie fühlte kein Entsetzen, keine Furcht. Er legte sein
Statussymbol, die Sense, die Angela im Traum nicht erkannt hatte, zur Seite,
öffnete seine knochigen, in den schwarzen Falten seines Umhangs steckenden Arme
und nahm ihren Körper mit einer Zärtlichkeit in Empfang, die sie nie erwartet
hatte.
„Lass uns miteinander tanzen, Liebste“, flüsterte er ihr ins Ohr, und langsam
setzten sie sich in Bewegung, tanzten im Einklang zweier Wesen, die zusammen
gehörten, zusammen gehörten von je her und für immer. Vor und zurück schwebten
sie übers Dach, drehten sich im Kreise, links herum und rechts herum, immer
schnellere Kreise vollführend, und er hob sie hoch und fing sie zärtlich wieder
auf: Ein Pas de deux, voll anmutiger Gelassenheit und wilder Leidenschaft
zugleich, wie er vordem noch nie und nirgendwo getanzt worden war. Und während
die beiden Körper in vollendeter Harmonie über das Dach schwebten, sang Isolde
das Lied, das schon viele Hörer zu Tränen gerührt hat:
“Mild und leise
wie er lächelt,
wie das Auge
hold er öffnet —
seht ihr's Freunde?“…
Ihre Drehungen wurden immer schneller, leidenschaftlicher, ekstatischer, hoch
warf er sie in die Luft, um sie sanft wieder aufzufangen und sich erneut mit ihr
zu drehen …
„Heller schallend,
mich umwallend,
sind es Wellen
sanfter Lüfte?
Wie sie schwellen,
mich umrauschen,
soll ich atmen,
soll ich lauschen?
Soll ich schlürfen,
untertauchen?“
Als die Musik zu Isoldes Liebestod diese Stelle erreicht hatte, hätten zufällige
Beobachter der Szene mit ansehen können, wie zwei zu einem Körper verschmolzene
Wesen, eins in einem schwarzen Umhang, eins in einem wallenden weißen Kleid,
über den Rand des Daches entschwebten und sich in weiter unbekannter Ferne
verloren.
Mit Isoldes letzten Worten:
„Süß in Düften
mich verhauchen?
In dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall,
in des Welt-Atems
wehendem All —
ertrinken —
versinken —
unbewusst —
höchste Lust!“
verklang die Musik, die Angela auf
ihrem Heimweg begleitete.
Als sich Fräulein Angela nach drei Tagen bei ihrem Chef noch immer nicht
gemeldet hatte, benachrichtige er den Hausmeister und die Polizei. Man fand eine
aufgeräumte Wohnung, etwas Geschirr, das eine eingenommen Mahlzeit vermuten
ließ, eine angebrochene Flasche Bordeaux, ein paar abgebrannte Kerzen, und auf
dem CD-Player lag eine Scheibe mit dem dritten Akt von Tristan und Isolde. Von
Angela gab es ansonsten keinerlei Spuren, und sie blieb für alle Zeiten
verschwunden, da die Welt, in die sie heimkehrte, keine Wiederkehr zulässt.
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